• DAT November 2007:

    Können Käfer tanzen?

    Im Sagenreich russischer Mythen können sie es ebenso wie auf der Ballett- und Figurenbühne. Die zweite Inszenierung des Leipziger Ensembles FIGURO übersetzt Igor Stravinskys Ballett-Klassiker »Der Feuervogel« in ein poetisches Marionetten-Musiktheater und erzählt ein Märchen über den Tod des Märchenhaften.

    Dunkle Streicher, dunkle Bühne. Vor einem nachtblauen Opernhorizont zeichnet sich eine Phalanx von Kreaturen wie aus einer anderen Welt ab. Filigran ihre Glieder, gespenstisch ihr schattenhafter Reigen. Gleich den Fröschen des Styx eröffnen sie den Eingang in ein phantastisches Jenseits der menschlichen Verstandeswelt. Hier spielen Pilze Fangen, führen Hunde ein Corps de ballet von Ratten an, wiegt sich musisch die rote Feder des Feuervogels durch den Bühnenhimmel. In dieses harmonisch verwobene, Feuer-Funken sprühende Reich von Phantasie und Märchen tappt nun ein Mensch, bzw. ein Mann — archetypischer Kontrapunkt aus der Welt von Bier und Begierde. Die Flasche in der Faust versucht er mit Hand und Sinnen zu fassen, was ihn umgibt. Sei es der Feuervogel, sei es die Prinzessin des Sagenreichs: was er sieht, will er besitzen. Was er nicht sieht, ist, dass er es damit zerstört. Die Wesen des Wunderbaren leben gerade und nur durch ihre Freiheit im Fluiden, im schwebenden Tanz durch die Weite des kleine Guckkastens, und entziehen sich so den Festlegungen vernunftgemäßer Begriffe, Definitionen oder Besitz anzeigender Attribute. Für sie gilt Stravinskys Satz über die Musik: Sie genügen sich selbst im Spiel.

    In der Kontraststellung des Wunderbaren und der Sphäre des Menschlichen besteht der Grundkonflikt, an dem sich die Leipziger Inszenierung des Regisseurs Alexej abarbeitet und damit über die Ballett-Fassung von 1910 hinausgeht. Handelt das Märchen-Ballett Stravinskys und dessen Librettisten Fokin von der Liebesgeschichte eines jungen Prinzen, der als ungebrochener Held seine Prinzessin aus den Fängen des bösen Dämons Kaschej befreit, erzählt die FIGURO-Inszenierung eine ernüchternde und weitaus differenziertete Geschichte: von der Invasion desPrinzips vom Kampf und Besitz in eine idealisierte Kunstwelt. Damit entfaltet Alexej ein vielschichtiges Spannungsfeld von Männlichem und Weiblichen, Restriktion und Freiheit, Ratio und Phantasie.

    Die Inszenierung geht werkgeschichtlich vor die Ballettfassung zurück und lehnt sich an die Stoff-Vorlagen der russischen Mythologie an. Gut und Böse erscheinen hier weniger in Schwarz-Weiß-Zeichnung, als sie in der Buntheit der Figuren gebrochen werden. Fokins Prinz hat bei Alexej nurmehr den feudalen Glanz eines historisierenden Kostüms. Trotz seiner rohen Bedrohlichkeit ist er eine lächerliche Gestalt, die durch die Handlung torkelt und ihren Ursprung in der volkstümlichen Figur Ivans des Dümmlings verrät. In seiner eigennützlichen Trieblichkeit ist er tierischer als der farbenprächtige Märchenzoo. Die Tiere haben ihm vor allem eines voraus: sie spielen und tanzen, sie sind, ohne zu haben. Dieser Sphäre des Zweckfreien, des Ästhetischen gehört auch der Feuervogel an, der gemäß seinem russischen Artikel weiblich personifiziert wird. Er erscheint in der Gestalt einer feingliedrigen Ballerina und liefert als Allegorie der Anmut und Sinnbild der Schwerelosigkeit des Tanzes ein Selbstzitat der Kunstform Ballett, der die Plumpheit des begehrenden Mannes gegenübersteht.

    In der ebenso mutigen wie anmutigen Figurentheater-Version Alexejs berühren sich zwei szenische Formen der Stilisierung. In der absoluten Ästhetisierung erzeugt die Inszenierung vor allem in ihren poetischen und malerischen Bildern die Atmosphäre des Balletts, ohne im eigentlichen Sinn solches zu sein. Das Ballett erscheint hier als anspielungsreich thematisiertes Formzitat, denn als ausgeführte Form. Die Mittel des Figurentheaters beschränken den tänzerischen Aspekt der Inszenierung auf einfache Formationstänze und eine rhythmische, taktgenaue Führung der Marionetten. So lebendig und einfallsreich die Inszenierung als Ganze ist, tendieren einige Szenen jedoch zu einer bildhaften Statik, wobei der Regisseur die durch die Musik vorgegebene Länge szenisch nicht immer ausfüllt. Allerdings zeigt sich in der gesamten Vorstellung eine große Musikalität gerade auch der Spieler. Die Dynamik der eingespielten Orchestermusik spiegelt sich dabei nicht nur in Tempo und Art der Figuren-Bewegungen. Die größtenteils anthropomorphen Gestalten werden von dem dreiköpfigen Spielerensemble (Martin Hufsky, Merle Nümann und Antje Keil) zu einer virtuosen Organik animiert, die den Figuren eine erstaunliche körperliche Ausdruckskraft verleiht. Diese sinnliche Expressivität zeichnet besonders die Feuervogel-Ballerina und das Monster Kaschej aus, deren Duett eine fühlbare Zärtlichkeit vermittelt. In einigen Szenen mutet es geradezu gespenstisch an, wie sich die Puppen Blicke zuzuwerfen scheinen. Ihre Mimik ist kaum reduzierter als die realer Balletttänzer.

    Der hinreißende und liebevoll bis ins Detail ausgearbeitete Miniaturismus von Puppenbauer Martin Hufsky zeichnet die durchgehend selbst entworfenen und angefertigten Figuren bis zur Perfektion in einer realistischen Anatomie, die aber teilweise auch grotesk ins Satirische überhöht ist. So lässt etwas die pausbäckige Prinzessin an die Bildwelten flämischer Malerei denken. Die kunstvolle Gestaltung der Puppen erfordert ein genaues Hinsehen, das den Zuschauer förmlich in den Guckkasten der Figurenbühne zieht und diese unvermerkt anwachsen lässt zu den Dimensionen einer großen Opernbühne.

    Schon nach wenigen Minuten hat einen die Vorstellung in einen anderen Größenmaßstab verzaubert und man fühlt sich unwillkürlich an den Spielort des »großen« Balletts versetzt. Auch die Bühne mit Portal, Horizont und Gassen nährt diese Illusion. Dennoch liegen die Unterschiede auf der Hand: Figuren können anders als menschliche Darsteller, wobei ihr Mehr vor allem im Weniger liegt. Ihr sowohl lebloser als animierter Doppelcharakter geht in Alexejs Inszenierung in eine Einheit von Inhalt und Form ein: Stehen sie als Kunstgeschöpfe des Märchenhaften in der Bühnenhandlung, sind sie gebunden an Gewalt und Willen des menschlichen Puppenspielers, mit dem sie durch mehr oder weniger sichtbare Bande in einem ambivalenten Verhältnis stehen. Auf einer metaphorischen bzw. formalen Ebene thematisiert die Inszenierung gewissermaßen den dünnen Faden zwischen Sagenreich und Mensch.

    Schließlich bekommt der Mensch, was er will. Jedoch notwendig um den Preis der Zerstörung des Wunderbaren: In einem stilisierten Zweikampf besiegt er den monströsen Zaren Kaschej, der hier allerdings nicht der Entführer, sondern der ungleiche Vater der Prinzessin ist. Es genügt Regisseur Alexej, beide Figuren gegenüberzustellen und ihre Waffen, gleichsam ihre Wirkprinzipien, zu demonstrieren, ohne sie anzuwenden: Der Mensch zückt das Schwert, während der Sagenfürst seine phantastisch überdimensionierte Hände — Symbol künstlerischen Erschaffens — wie zu einer Beschwörung ausbreitet. In diesem reglosen Duell der Symbole sticht die physische Gewalt die mystische. Kaschej hat ausgespielt, die Figur fällt mit ihrem Spielkreuz zu Boden und damit verschwindet die gesamte Märchenwelt von der Bühne. Die waldigen Böschungen treten zurück, der entseelte Feuervogel steigt in einer Apotheose aus dem Bild.

    Schließt die Ballettvorlage Stravinskys mit einem romantisch verklärten Bild der Vereinigung des Liebespaars, steht am Ende der FIGURO-Inszenierung der Triumph der Gewalt, der bloße Gestus des Besitzens: der Mann umfasst die Frau als Gegenstand seines Begehrens. Ein letzter tanzender Käfer, der sich in die Szenerie verirrt, wird totgetreten — Schluss mit Tanzen! Das Märchen ist tot, es lebe das Märchen.

    Nico Schrader (mit freundlicher Genehmigung)